
“Aufbruch in das digitale Zeitalter in der Oberflächenchemie”
19.01.2021
Prof. Dr. Jost Göttert spricht im Interview über das innovative deutsch-niederländische HIT-Projekt im Bereich der Oberflächenchemie.
Das HIT-Institut an der Hochschule Niederrhein stellt für Unternehmen und die Hochschulforschung ein OPEN LAB SPACE zur Verfügung.
Im D-NL-HIT Projekt werden Partner aus der Lack-, Beschichtungs- und Klebstoffindustrie im deutsch-niederländischen Grenzgebiet eingeladen, fortschrittliche Lösungen für die Entwicklung ihrer Produkte der nächsten Generation zu nutzen.
Das Interreg-Projekt HIT ist bislang das größte Transferprojekt in der Geschichte der Hochschule Niederrhein. Worum geht es und welche Ziele verfolgt das Projekt?
Um es mit einem ‘knappen’ Statement zu sagen – es geht um die Entwicklung marktreifer Oberflächenprodukte, sei es nun Farben, Lacke, Klebstoffe oder auch 3D Druckmaterialien, mit Hilfe moderner Methoden der Hochdurchsatz-Automation, Datenmanagement und innovativer Modellierung. Gestartet sind wir mit der Idee einer Hochdurchsatzanlage, mit der eine große Anzahl von Formulierungen und Rezepturen systematisch und umfassend hergestellt, getestet und bis zur Produktreife optimiert werden können. Mittlerweile haben sich innovative Machine Learning Algorithmen am Markt etabliert, die den Chemikern, gemeinsam mit leistungsstarker Hard- und Software, effektive Werkzeuge für seine Arbeiten zur Verfügung stellen und ihn dabei unterstützen, in einem iterativen Prozess ein digitales Modell – den Digitalen Zwilling – der Formulierungsaufgabe zu entwickeln. Mit diesem Modell werden die gewünschten Produkteigenschaften virtuell optimiert und müssen dann nur noch gezielt stichprobenartig getestet werden. Damit hat der Aufbruch in das Digitale Zeitalter auch in der Oberflächenchemie bereits begonnen.
Erzählen Sie uns von der „iHIT Solution Engine“. Was macht die Maschine so besonders und wer kann von ihr profitieren?
Die iHIT Solution Engine ist ein Prozess, der hocheffizient die Anforderungen an eine Formulierung in eine reale Rezeptur umsetzt. Der Prozess beginnt mit einer intensiven Expertendiskussion der Aufgabenstellung. Daraus ergeben sich Randbedingungen an die Formulierung, z.B. die Anzahl der Additive und Pigmente, der Menge an Binder oder die Auswahl verschiedener Initiatorsysteme sowie eine Vorschrift, wie alles miteinander vermischt, aufgetragen, gehärtet und abschließend getestet wird. Diese Information übersetzt unser Machine Learning Algorithmus in konkrete Experimente, die nun wahlweise auf der Hochdurchsatzanlage oder in einem konventionell manuell arbeitenden Labor durchgeführt und ausgewertet werden. Anhand der dabei gewonnenen Messdaten, die dem Algorithmus zur Auswertung übergeben werden, schlägt dieser neue Experimente vor, und der Prozess beginnt interaktiv von Neuem. Das Interessante und Neue an diesem Ansatz – bereits mit moderat vielen Experimenten (typischerweise 50-100) kann der Algorithmus bei bis zu 10 Eingangsgrößen, gemeint sind damit die Rohstoffe der Formulierung, gleichzeitig verschiedene Eigenschaften wie Farbe, Glanz, Härte, Abriebbeständigkeit oder Haftung optimieren und mit seinem Modell, dem Digitalen Zwilling, vorhersagen. Das verkürzt nicht nur den Entwicklungsprozess dramatisch, sondern reduziert auch die Kosten, da bis zu 5-mal weniger Experimente durchgeführt werden müssen. Darüber hinaus kann man nun mithilfe des Digitalen Zwillings systematisch, quasi in einem virtuellen Experiment, die Eigenschaften anderer Rezepturen aus denselben Ausgangsstoffen untersuchen und muss dann die besten Formulierungen nur noch stichprobenartig testen. Damit verschiebt sich ein erheblicher Forschungs- und Entwicklungsaufwand in die parallele Digitale Welt.
Was bedeutet das Projekt D-NL-HIT und die „iHIT Solution Engine“ für die Wissensregion euregio campus? Ergibt sich daraus ein Wettbewerbsvorteil für die Region?
Alleine die Nachfrage der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) aus den Niederlanden und Deutschland des Vorgängerprojektes D-NL Technologie Kompetenzverbund funktionale Oberfläche (TKV FO) nach der richtungsweisenden Hochdurchsatztechnologie und der Digitalisierung in diesem Bereich war recht hoch. Für uns begann und beginnt damit am HIT, dem Institut für Oberflächentechnologie an der Hochschule Niederrhein, aber auch bei unseren Projektpartnern der Aufbruch in das Digitale Zeitalter der Oberflächenchemie. Dieser Entwicklungsprozess bringt erhebliche Änderungen innerhalb der Hochschule und bei den mit uns verbundenen Partnerunternehmen mit sich. Z.B. ist es jetzt selbstverständlich, dass interdisziplinäre Forschungsteams mit Experten aus der Chemie, der Elektro- und Automationstechnik, des Datenmanagements, der Modellbildung gemeinsam mit Wirtschaftsexperten nach innovativen Produkten forschen und diese dann zeitnah mit unseren Industriepartnern auf den Markt bringen. Dieser Vorgang ist jedoch kein Selbstläufer, sondern verlangt Offenheit für Neues, Teamfähigkeit, digitale Kompetenz und die Bereitschaft in ‚schnellen Scrum-Sprints‘ neue Ideen zu testen, diese ggf. schnell zu verwerfen, oder aber in weiteren Sprints bis zum Produkt zu entwickeln. Dies beeinflusst bereits jetzt nachhaltig unsere Aus- und Weiterbildung, und durch Corona setzen wir dabei auch verstärkt die Möglichkeiten der Digitalen Kommunikation ein. Diese Dinge brauchen wir, um regional, national und international als grenznahe (Konversions-) Region im Technologie-Wettbewerb bestehen zu können – wir haben die Voraussetzungen geschaffen und sind für den Wettbewerb vorbereitet.
Wie wichtig ist die grenzübergreifende Zusammenarbeit in Hinblick auf Forschung im Bereich funktionaler Oberflächen?
Sowohl die regionale, als auch mit den Partnern in der deutsch-niederländischen Grenzregion, die gemeinsame grenzübergreifende Zusammenarbeit sind Voraussetzungen, um auf den internationalen Wettbewerb vorbereitet zu sein und dort zu bestehen. Ich habe bereits den interdisziplinären Teamaspekt bei der Lösung der technischen Herausforderungen genannt. Durch das gemeinsame Handeln in der Grenzregion stärken wir ferner die regionalen Vorteile und nutzen die oftmals auch komplementären Möglichkeiten und Fähigkeiten der Partner. Wir schaffen mit D-NL-HIT, dem Oberflächenzentrum HIT und der iHIT Solution Engine sowie dem Partnernetzwerk eine gemeinsame, moderne, digitale Handlungsbasis, um die Herausforderungen an innovative funktionale Oberflächenlösungen unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele zu entwickeln. Diese Lösungen können wir nur gemeinsam für die verschiedensten Anwendungen finden und als innovative Produkte ausgehend von euregio campus auf dem Weltmarkt platzieren.